Gesicht eines fremden Freundes

Christoph Rösner


Für gewöhnlich suchen sich meine Augen die Objekte ihres Interesses einigermaßen unbeeinflußt selbst aus. Dies gilt, möchte ich sagen, für die allermeisten Lebenslagen und Situationen.

Morgens jedoch, wenn ich Platz genommen habe zum unvermeidlichen Ritual des Tagesbeginns, nach dem quälenden Akt, den das Aufstehen bedeutet, nach den ersten belebenden und erleichternden Zügen an meiner filterlosen französischen Zigarette, kennen meine Augen seit geraumer Zeit nur noch einen Punkt, dem sie ihre ganze Aufmerksamkeit widmen. Es ist das Gesicht. Ein fremdes, papiernes, inzwischen indes sehr vertrautes Gesicht, das, einer verblaßten Tätowierung gleich, mich aus einem fremdartigen Gewirr ungezählter Figuren, Formen und Einzelheiten starr und doch merkwürdig veränderlich Morgen für Morgen aus immer dem selben Winkel anschaut.

Nach den ersten Malen, als sich unsere Augen wie zufällig begegnet waren, mußte ich meine ganze Konzentration aufbieten, um es in der augenscheinlichen Unordnung seiner Umgebung überhaupt wiederfinden zu können.

Heute, nach ungezählten Morgenkonferenzen, können wir fast ohne Zeitverzögerung unseren wortlosen Gedankenaustausch beginnen, ohne daß ich die ersten Sekunden und Minuten mit sinnlosem Suchen nach ihm zu vertun gezwungen bin. Ich muß gestehen, manches Mal nach beendetem Ritual aufgestanden zu sein, ohne es entdeckt zu haben. Das jedoch gehört der Vergangenheit an.

Dennoch kommt es auch heute noch vor, daß ich den Ort der ersten Tageszeit verlasse, aufgerieben zwischen Irritation und Faszination, nachdem es mich aus dem pockenübersäten Universum seiner kleinen Existenz einmal mehr wortlos angeglotzt oder angelächelt hat.

Es fällt mir schwer zu sagen, woraus dieses Universum wirklich besteht. Mir erscheint es als ein schier undurchdringliches Dickicht aus Reiskörnern, Chromosomenpaaren und Popeln, Liebesperlen und Froschblutspritzern, aus Tintenkleksen und winzigen Phagen, violetten Spermien und blauen Hagelkörnern, farblosen Buchstabenfragmenten und angedeuteten Liebesakten.

Heute hat sich ein großer Teil meines ursprünglichen Erstaunens und – ich gebe es zu – meiner Ablehnung in Ruhe und Gelassenheit verwandelt, wenn ich es auf seinen sinn -und ziellosen Spazierflügen durch sein merkwürdiges Reich begleite, und ich bin immerhin fähig, einen nicht geringen Teil dieses Reiches zu verstehen, während ich aufmerksam seinen wortlosen Fantasiegeschichten lausche, die ihm vertraut, ja, gewöhnlich, mir jedoch noch immer fremd und manchmal unheimlich sind.

Mein Verstand sagt mir, daß es immer dasselbe unveränderte Gesicht ist - manchmal zweifle ich, ob es überhaupt eines ist - und doch bin ich häufig verunsichert, wenn es mich unter seinem fordernden Blick aus unregelmäßig verquollenen Augenhöhlen erschauern läßt. Manchmal auch lasse ich mich wärmen von der schwermütigen Trauer seiner schillernden Physiognomie. Es kommt auch vor, daß wir gemeinsam, tonlos und gelöst, lachen. Oft kennen wir nicht den Grund unseres Lachens. Aber es ist ein wohliges, ein warmes, ein beruhigendes Lachen.

Vielleicht lacht es dann über mich, wie ich so vor ihm sitze, gedankenverloren und pflichtenlos. Vielleicht vergleicht es auch mein verschlafenes, von Traumabdrücken entstelltes Gesicht mit dem der anderen Menschen, die, zu anderen Zeiten zwar, aber aus eben demselben Grund wie ich sich an diesem Ort niederlassen. Damals glaubte ich, es nie ganz verstehen zu können, da ich seine wort - und silbenlose Sprache nur bruchstückhaft entschlüsseln konnte, aber ich war mir der wohlwollenden Freundlichkeit seines Lachens sicher, in das ich auch heute noch immer gerne einstimme.

Es kam vor, daß es, wie ich heute glaube, verstimmt war. Dann blickte es mich mit seinen ungleichen Augen, verborgen unter zwei ebenfalls ungleichen Brauen, die eine die eines erfolglosen Boxers, die andere die einer schüchternen Tänzerin, herausfordernd oder verschämt an, und es fiel mir schwer, mich auf seine launenhaften Stimmungen einzulassen.

Oder – und auch das kam vor – diese ungleichen Brauen gaben den schweifenden Blick eines narrenhaften Freigeistes preis, der mich belustigt in die Grenzenlosigkeit seiner fantastischen Realität zu locken versuchte.

Des öfteren drängte sich mir der Eindruck auf, daß, immer wenn ich spielerisch meine Mimik tanzen ließ, um seine Reaktion heraus zu fordern, was unmöglich ist, es mich, ungelenk zwar, aber erkennbar zu imitieren versuchte. Vielleicht wollte es damals schon mit mir in Verbindung treten, und nur ich war noch nicht fähig, seine Bemühungen in eine für mich verständliche Sprache übersetzen zu können.

Wie gesagt, dies alles gehört der Vergangenheit an und in die Anfangszeit unseres Kennenlernens.

Heute haben wir alle anfänglichen Schwierigkeiten unserer holprigen Konversation überwunden, und es erzählt mir viele erstaunliche Geschichten aus seiner Lebenswelt.

Geschichten über die Leier, die Wahrheit über das pythagoräische Dreieck, die Aufgaben des Großen Wagens, über die Unschuld des Bermudadreiecks, von der Entstehung des Sarkophags Ramses des Zweiten, von einem goldenen Schlüssel, dessen Geheimnis es selbst noch nicht hat enträtseln können, vom skizzenhaften Gerippe in seiner direkten Nachbarschaft, wahrscheinlich das eines Urreptils, vom Äquatorschnee, vom feinen Aroma der Liebessäfte und den fremdartigen Notenzeichen einer mir fremden und verborgenen gebliebenen Klangwelt.

Ich glaube, daß es oft, wenn es sich schlafend stellt, dieser Musik lauscht und dann nicht gestört werden möchte. Ich selbst konnte bis heute noch keine dieser berauschenden Melodien vernehmen, und ich vermute, daß nur mein Freund dazu fähig ist, da man seine Ohren nicht sehen kann und ihn offensichtlich eine Art inneres Ohr allein hierzu befähigt.

Das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, daß er so begierig auf alles von mir Gehörte ist, das ich ihm mit der lächerlich ungelenken Mimik meines Gesichtes übermitteln muß. Genüßlich wiegt er sich im Bachrauschen beim ersten Öffnen meines Fensters, im Weckgesang der Morgenamsel, den Hiobsbotschaften des Radiogerätes, im entfernten Klimpern des Frühstücksgeschirrs oder im apokalyptischen Auswurfgeschrei des benachbarten Rentners.

Auch ist er begierig, meine Nachtträume und meine Tagträume erzählt zu bekommen.

Er hat mich nämlich wissen lassen, daß er selbst nicht träumen kann. Er sagt, für Träume wäre kein Platz hinter seiner zweidimensionalen Stirn, die, wie ich finde, sehr eben und sehr schön ist.

Aber dieser Umstand bereitet ihm keine Traurigkeit, denn er fühlt sich wohl in der Gesellschaft seiner Figurinen, Fabelwesen und Sternbilder, deren kurzweilige Gegenwart er über alles liebt.

Gestern habe ich ihm versprochen, ihn mitzunehmen, falls ich einmal die Wohnung wechseln sollte, denn ich könnte meinen Freund heute nicht mehr missen. In allen Einzelheiten mußte ich ihm zublinzeln, was ich tun würde. Ich würde ihn vorsichtig befeuchten, ihn samt seiner weitläufigen, merkwürdigen Welt vorsichtig ablösen, ihn nach der Trocknung sorgfältig zusammenrollen und in einer schützenden Hülle verpacken, bis ich ihn an der einzig angemessenen Stelle im neuen Raum meiner morgendlichen Sitzungen wieder ankleben würde, wo sich unsere Blicke in vertrauter Weise wieder ungehindert treffen könnten.

Das kleine, rosafarbene Muttermal rechts neben seiner windschiefen Knubbelnase schien vor Freude auf und ab zu tanzen, als ich ihm dies alles berichtete, denn inzwischen weiß er, daß ich mein Versprechen halten werde.


Die gesamte Ausgabe 12 /2009 V2 gibts hier als PDF.


Über den Autor


Geboren wurde Christoph Rösner am 8. Juni 1958 in Hagen (Nordrhein-Westfalen). Im Jahr 2000 erschien sein erster Gedicht- und Kurzprosaband »In der Mitte« beim ardenku-Verlag Hagen. Bis Dezember 2002 war Rösner zwei Jahre als freier Fernsehjournalist für die WDR TV-Studios Dortmund und Siegen tätig. Heute arbeitet er als freier Autor, Regisseur, Rezitator, und steht mit vielen eigenen Programmen auf den Kleinkunstbühnen des Landes.

Christoph Rösner lebt heute wieder in Hagen.


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